von Juan Tramontina
Das ist total unfair, dachte Menara. Gerade hatten die Vereinigten Staaten angekündigt, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszusteigen. Wie sollen wir das bloß noch schaffen?
Sie lief in die Wohnküche und bereitete eine große Kanne Kräutertee zu. Eine Entspannungstasse für sich selbst, den Rest ließ sie stehen. Es dauerte nie lange, bis die Kanne leer war.
Zurück in ihrem Zimmer ging sie wieder online. Mit ihrer klimaaktivistischen Gruppe hatte sie viel Lobbyarbeit für ein solches Abkommen betrieben, und jetzt das. Es war definitiv ein heftiger Rückschlag. Und ein dezenter Hinweis darauf, dass sie an ihrer Strategie arbeiten musste. Womöglich hatte sie den Fokus zu stark auf den Bereich der Regierungspolitik gelegt. Zu allem Überfluss las sie im Internet, dass die EU nach aktuellem Stand ihre selbst gesetzten Klimaziele nicht erreichen würde. Erst spät schlief sie ein. Wieder einmal.
„Menara, baki, baki!“ Rini verfiel immer ins Esperanto, wenn sie ihre jüngere Schwester aufrütteln wollte. „Wir müssen los!“ Es stimmte, sie waren mit Backen dran. Vor drei Wochen, am ersten Sonntag des Monats, hatten sie auf der Nachbarschaftsversammlung vereinbart, heute für den ganzen Block Pizza zu backen. Im Hinterhof wartete schon die restliche Meute, etwa ein Dutzend Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 17. Es bildeten sich drei Gruppen: Eine sollte sich um die riesige Teigmasse kümmern. Angeleitet von Rini, deren Arbeit dieses Jahr darin bestand, den weitläufigen Gemüsegarten zu pflegen, sollte eine weitere Gruppe die überdachten Tomatensträucher abernten und die überall verteilten Basilikum- und Oregano-Pflänzchen absuchen. Und eine dritte war für das Anheizen des größeren der beiden Lehmöfen verantwortlich. Auf den Dächern drumherum blitzten die Solarpaneele, und die Gemeinschaft hatte es sich nicht nehmen lassen, im Innenhof gemeinsam die altmodischen Lehmöfen zu bauen und zu betreiben. Den ganzen Nachmittag über kamen Leute vorbei, aßen Pizza und beglückwünschten die Bäckerbande zu ihrem Geschick. „Dankon!“, riefen sie ihnen zu.
Über Lehm- und andere Öfen sinnierend, kam Menara schließlich auf das Thema Braunkohle, einem der zentralen Energieträger des Landes, aber auch weltweit. Ihr Urteil war schnell gefallen: Diese Dreckschleudern, die sich Kohlekraftwerke schimpften, waren ein Übel sondergleichen. Im Vorfeld der Weltklimakonferenz in Bonn beteiligte sich ihre Gruppe an einer Protestaktion vor einem solchen Kraftwerk. Vor den Toren hielten sie Transparente hoch, doch dahinter brannten die Öfen weiter. Irgendetwas stimmte nicht. Sie beschloss, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen. Sie zog sich von der Gruppe zurück und überließ das Ganze seinem Lauf. In der Zwischenzeit ordnete sie ihre Gedanken. Kohlekraftwerke, die die Industrie am Laufen hielten, die das ganze System am Laufen hielten …
„Ĉu vi volas vojaĝi al Berlino?“ Rinis Frage riss Menara unsanft aus ihren Überlegungen. Was soll diese Frage jetzt? Und was soll ich in Berlin? Sie weiß doch ganz genau, dass Reisen nicht so mein Ding sind.
„Es sind gerade ein paar Plätze im Zug frei.“
„Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin!“, platzte es aus Menara heraus.
Rini nickte. „Hätte ja trotzdem sein können, dass du Lust hast, was zu erleben. Aber wer bin ich schon, um darüber zu urteilen, womit andere Leute ihre gesamte Zeit verbringen? Wir sehen uns!“ Die Tür fiel hinter ihr zu.
Menara begann ihre Informationsquellen zu diversifizieren, eine Tageszeitung hier, eine Radiosendung dort, ein Videoblog ganz woanders. Über Twitter wurde sie schließlich auf etwas aufmerksam, das sie sofort begeisterte: Eine Gruppe junger Menschen hatte alles hinter sich gelassen, war in der Nähe von Aachen in einen Wald gezogen und hatte angefangen dort zu leben. Nicht auf dem Boden, sondern auf Bäumen. Die Rodung der Reste eines der ältesten deutschen Primärwälder sollte so verhindert werden. Wahnsinn, dachte sie. Das ist ein ganz anderer Ansatz als Lobbyarbeit oder symbolische Aktionen. Das ist es, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe. Direktes Einwirken – ohne Umschweife oder Mittlerpersonen. Ihre Umweltgruppe ließ sich schnell von der Idee begeistern, dieses Projekt zu unterstützen. Gemeinsam ließen sie sich auf dem Wiesencamp nieder, wo die Unterstützer der Waldbesetzung und der Baumhäuser im Hambacher Forst ihr Lager hatten.
Ihre Tür ging auf. „Ich habe was mitgebracht … Aber schauen musst du schon selbst!“ Rini drängte sie in Richtung Fenster. Menara schwieg, ließ sich aber dennoch von ihr führen. Was will sie denn jetzt? Sie platzt immer rein, wenn ich … Oh, was?! Kann doch nicht wahr sein! „Deswegen wollte ich, dass du mitkommst“, beantwortete Rini Menaras fragenden Blick. „Ich mich bereits vor einem halben Jahr bei der neuen Manufaktur in Berlin auf die Liste für ein Lastenrad eingetragen – und dafür an anderer Stelle eine notwendige Tätigkeit erledigt. Jetzt hat unser Block auch eines.“ Hand in Hand sprangen Menara und ihre große Schwester im Kreis.
Menara war zurück bei ihren Klimaaktiven. Mit dieser Gruppe hatte sie schon mehr über klimatische und politische Zusammenhänge gelernt als innerhalb ihres Kreises zur gegenseitigen Bildung an der Schule. Und sie sollte noch deutlich mehr lernen – am eigenen Leib sozusagen: Eine Million Arbeitsstunden setzte die Polizei ein, um 77 Baumhäuser zu räumen – zugunsten des Braunkohletagebaus. Menara kam dabei zum ersten Mal in Polizeigewahrsam.
Sie wusste nicht, was sie davon zu halten hatte. Sie bereute keine ihrer Taten, aber die Erfahrung hatte sie durchaus mitgenommen. Dass es am Ende – und direkt im Anschluss an die Räumung – ein Gericht war, dass die Rodung untersagte und den gesamten polizeilichen Einsatz rund um die Baumhäuser ad absurdum führte, war immerhin eine mehr als kleine Genugtuung. Jetzt musste sie aber vorerst abschalten. In ihrem Stadtviertel begann das halbjährliche Schenkfest, eine willkommene Abwechslung. Auf dem neuen Lastenrad brachte sie gemeinsam mit Rini, neben einigen Sachen aus dem Haus, eine kleine Kommode, die sie nicht mehr brauchten, sowie verschiedenste Kleidungsstücke, die noch gut in Schuss waren, auf den großen – und völlig überfüllten – Platz. Das Event, nach dem Objekte aller Art wild durcheinander gewürfelt überall im Stadtviertel und darüber hinaus wieder auftauchten, war eines der beliebtesten Feste im Jahr. Menara musste schmunzeln. Das dort drüben ist doch mein selbst bemaltes T-Shirt vom letzten Jahr! Ein Mädchen lief an ihr vorbei, mit einem Ausdruck großer Zufriedenheit im Gesicht.
Ein Grinsen tauchte auch auf Menaras Gesicht auf, als sich wie aus dem Nichts plötzlich Fridays for Future wie ein Virus rasant verbreitete. Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt entschieden plötzlich, sich zur Wehr zu setzen – gegen eine Zukunft, die für sie allzu katastrophal aussah. Menara animierte ihre Gruppe sofort, sich auch dort zu engagieren. Ein halbes Jahr später kam es zu einem globalen Protesttag. Hunderttausende waren auf den Straßen unterwegs. Menara natürlich mit dabei. Doch obwohl die Dringlichkeit des Themas immer mehr Menschen bewusst wurde, passierte – vom Aufschwung grüner Parteien mal abgesehen – vergleichsweise wenig. Klar, was sind schon unsere Druckmittel? Ein Schulstreik unterscheidet sich halt in einem Punkt total von einem Arbeitsstreik. Er tut niemanden weh.
Rini verabschiedete sich von ihrer Schwester und ging – wie sie stets schmunzelnd zum Besten gab – zu ihrer zweiten „Arbeitsstelle“. Menara hatte sie dort beobachtet: In ihrer Werkstatt arbeitete Rini tatsächlich. Hauptsächlich für sich selbst. Immer wieder entstanden Werke, richtige Kunstwerke: Aus recyceltem Papier und Hanffäden, Zweigen und Muscheln gebastelte, verdrehte und leuchtende Landschaften, die entweder an ein Haus gingen, in dem jemand eine notwendige Tätigkeit erledigt hatte, oder an einen der vielen Ausstellungsräume. Manchmal sogar an ein Museum. Menaras Augen leuchteten bei diesen Gedanken auf. Nächstes Jahr würde auch sie eine eigene Werkstatt oder einen anderen Raum zum Ausleben ihrer Kreativität und ihres Schaffensdrangs haben können.
Tagelang dachte Menara über die Taktiken und Strategien der Umweltschutzbewegung nach. Am Ende schien ihr Fridays for Future einfach zu handzahm. Wichtig, aber nicht effizient genug. Sie stieg mit ihrer Gruppe bei XR ein – Extinction Rebellion. Eine Straßenblockade jagte die nächste. Beinahe im Wochenrhythmus landete sie jetzt im Polizeiarrest. Anfangs noch bei jeder einzelnen Festnahme wie vom Blitz getroffen, nahm die Betroffenheit rapide ab. Das Ganze kam ihr nur noch absurd vor. Wollen die Verantwortlichen die Klimakatastrophe gar nicht verhindern? Was soll diese polizeiliche Überreaktion bezwecken? Hört hier denn niemand auf die Jugend? Was ist das für eine Gesellschaft?!
Möglicherweise in Reaktion auf Fridays for Future und XR erklärte die EU schließlich den Klimanotstand. Ignoranz wollte sich scheinbar niemand vorwerfen lassen. Was beachtlich klang, hatte jedoch keinerlei konkrete Folgen. Und kurz darauf war vom einem neuen Virus die Rede. In China kam es zum Lockdown, in Norditalien drohte der Stillstand einer ganzen Region. Menara verkroch sich in ihr Bett.
Früh morgens war sie nochmals kurz online. Mit Tränen in den Augen rannte sie in Rinis Zimmer und legte sich zu ihrer noch schlafenden Schwester. Menaras Unruhe spürend, war diese im Nu hellwach. „Ist mit dir alles in Ordnung, Liebes?“
„Ja, klar! Ach, was weiß ich?! Nein. Alles scheiße!“
„Was denn los?“, wollte Rini wissen.
„Das ist doch alles mega unfair! Jetzt wurde das Virus auch noch zu einer Pandemie erklärt. Alles ist lahmgelegt.“
„Verstehe … dein immersives Strategiespiel aus dem Umweltunterricht.“ Rini blieb ganz ruhig, öffnete ihr Interface und loggte sich bei Menara ein. Diese fing an zu schluchzen. Rini schaute sich auf Menaras VR-Rechner um.
„Nimm dir das nicht so zu Herzen, Kleine. In welche Rolle bist du geschlüpft? Die Industriellen?“
„Normale Bevölkerung. In Form einer kleinen Umweltschutzgruppe“, antwortete Menara knapp.
„Ok, neniu surprizo!“, sagte Rini. „Deren Spielziele sind faktisch unerreichbar. Eigentlich wäre ein anderes politisches System nötig, doch das ist schwierig in der kurzen Zeit.“
„Lässt sich die Welt denn überhaupt nicht retten?“ Menara weinte nicht mehr, sondern blickte ihre Schwester verblüfft an.
„Am Anfang denkst du noch ‚Ist ja genug Zeit, wird schon alles‘. Am Ende ist die Entwicklung rasant und für eine Kehrtwende sind die Kräfteverhältnisse zu ungleich verteilt“, sagte Rini. „Deswegen der Titel des Spiels: ‚Alternativ-Erde 2000+: Klimawandel-Challenge – Mirage-Edition‘. Aber bei dem Spiel geht es auch weniger ums Gewinnen im simulierten Szenario, als darum, welche Schlüsse wir aus der Erfahrung für unsere eigene Welt ziehen. Allerdings halte ich die Weltrettung in dieser Spielvariante größtenteils für reine Mirage, eine Fata Morgana!“