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Rondenbarg-Prozess – Sechseinhalb Jahre nach dem G20-Gipfel

Sechseinhalb Jahre nach dem G20-Gipfel in Hamburg hat die Staatsanwaltschaft immer noch einen starken Verfolgungswillen und wünscht sich Haftstrafen – für das Mitlaufen auf einer Demonstration, bei der es zu massiver Polizeigewalt und zahlreichen Verletzten kam. Im sogenannten Rondenbarg-Verfahren beginnt der Prozess gegen sechs Betroffene am 18. Januar 2024 in Hamburg und soll bis in den August andauern. Eine Verurteilung würde eine Einschränkung des Demonstrationsrechts bedeuten.

Justiz greift Versammlungsfreiheit an: Auftakt im Rondenbarg-Prozess

Der G20-Gipfel in Hamburg liegt inzwischen mehr als sechseinhalb Jahre zurück, aber die Repression geht weiter: Am 18. Januar 2024 beginnt der Prozess gegen sechs Gipfelgegner*innen, denen die Teilnahme an der Demonstration im Straßenzug Rondenbarg vorgeworfen wird. Damit gehen die Verfahren im sog. Rondenbarg-Komplex in die dritte Runde, nachdem zwei frühere Prozesse in Hamburg bereits ergebnislos abgebrochen wurden.

Für die sechs Angeklagten, die aus dem gesamten Bundesgebiet kommen, stellt die monatelange Verhandlung eine extreme Belastung dar: Es drohen Haftstrafen und hinzu kommen die häufigen Fahrten nach Hamburg, die einen geordneten Arbeits- oder Ausbildungsalltag undenkbar machen. Bisher sind 25 Verhandlungstage bis August angesetzt, die mit Solidaritätskundgebungen vor dem Gericht begleitet werden. Am 20. Januar 2024 findet zudem eine bundesweite Demonstration der Solidaritätskampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“ statt.

Hintergrund des Prozesses ist ein Demonstrationszug mit rund 200 Teilnehmer*innen, der am Morgen des 7. Juli 2017 auf dem Weg zu Blockadeaktionen war. In der Straße Rondenbarg in Hamburg-Bahrenfeld griff eine BFE-Einheit die Versammlung ohne Vorwarnung an, wobei zahlreiche Aktivist*innen teilweise schwer verletzt wurden. Im Nachgang wurden keine Polizeibeamt*innen für die brutale Auflösung der Demonstration belangt, aber über 80 angegriffene Gipfelgegner*innen angeklagt.

In der Anklageschrift sind die Vorwürfe schwerer gemeinschaftlicher Landfriedensbruch in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in besonders schwerem Fall, versuchte gefährliche Körperverletzung, die Bildung bewaffneter Gruppen und Sachbeschädigung aufgeführt. Nichts davon wird den Angeklagten individuell vorgeworfen, sondern es werden pauschal alle Demonstrant*innen beschuldigt. Indem eine angebliche „gemeinschaftliche Tat“ konstruiert wird, soll die Reform des Landfriedensbruch-Paragrafen (§ 125 StGB) wieder rückgängig gemacht werden: Seit 1970 muss bei diesem Vorwurf eine eigenständige Tatbeteiligung nachgewiesen werden und die bloße Anwesenheit reicht nicht mehr aus.

Im Nachgang des G20 plant die Justiz somit einen Frontalangriff auf die Versammlungsfreiheit. Bereits in einem früheren Prozess gegen Gipfelgegner*innen war das Konstrukt der „psychischen Beihilfe“ bemüht worden und im Rondenbarg-Komplex wird dadurch das Grundrecht noch weiter ausgehöhlt werden.

„Der Rondenbarg-Prozess ist ein Paradebeispiel politischer Justiz: Statt den äußerst brutalen Polizeieinsatz zu verfolgen, der elf Schwer- und Dutzende weitere Verletzte forderte, stehen die Angegriffenen vor Gericht“, erklärte Anja Sommerfeld vom Bundesvorstand der Roten Hilfe e. V. „Mit dem Anklagekonstrukt sollen Versammlungen per se kriminalisiert werden. Sollte dieser Vorstoß Erfolg haben, ist künftig die bloße Teilnahme an einer Kundgebung oder Demonstration ein unkalkulierbares Risiko. Das wäre das Aus für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das seit Jahren immer weiter eingeschränkt wird.“ Abschließend forderte Sommerfeld: „Wir stehen solidarisch an der Seite der Angeklagten. Die Verfahren gegen G20-Gegner*innen müssen umgehend eingestellt werden. Wir rufen dazu auf, den Prozess solidarisch zu begleiten und sich an der Solidaritätskampagne zu beteiligen.“

Neuer G20-Prozess in Hamburg: Demokratische Grundrechte und Versammlungsfreiheit verteidigen!

Am 18. Januar beginnt vor dem Hamburger Landgericht erneut ein Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den G20-Protesten 2017. Mehr als sechs Jahre danach wird der Prozess gegen Teilnehmende einer G20-kritischen Demonstration eröffnet, die in der Straße „Rondenbarg“ in Hamburg von einer Sondereinheit der Polizei eingekesselt und aufgelöst wurde. Dabei wurden elf Demonstrierende schwer verletzt, kein Beamter kam zu Schaden. Angesetzt sind 25 Prozesstage gegen junge Kolleg:innen aus dem ganzen Bundesgebiet, die aus ihrem Arbeitsalltag und Privatleben gerissen werden.

Keinem der sechs Angeklagten wird eine individuelle Tat vorgeworfen: Wegen bloßer Anwesenheit sollen Demonstrierende, darunter Mitglieder des damaligen Bonner Jugendvorstands der ver.di und eine IGM-Vertrauensfrau, zu Haftstrafen verurteilt werden. Dieses Vorgehen der Staatsanswaltschaft würde dazu führen, Kollektivstrafen gegen Demonstrierende zunehmend als Standard zu etablieren. Das ist ein massiver Angriff gegen die Demonstrationsfreiheit und unsere Grundrechte!

Wir rufen daher dazu auf „Demokratische Grundrechte und Versammlungsfreiheit verteidigen! G20-Prozesse einstellen!“

Jagdsabotage – RitschRatsch

In die Dunkelheit schlichen schwarz gekleidete Menschen, mit Masken vermummt, gerüstet mit Werkzeugen. Was trieb sie an den Waldrand, dass sie so zielgerichtet übers Feld stapften? Sie kamen an den Ort, den sie ausgemacht hatten, da wo großes Unheil verrichtet wird. Nicht diese Menschen hatten vor Unheil über irgendwen zu bringen. Die schwarz gekleideten und vermummten Menschen wollten das Unheil an diesem Ort beenden! Als sie ankamen begannen sie sich an die Arbeit zu machen und sägten motiviert mit Geschick, die ersten Balken des ersten Turms der Schande. Sie sägten und zerschlugen die Stützen der Struktur und bald hielten die Beine des Gebildes das Dach nicht mehr gut.

Es knackste und krachte und der Turm fiel ganz um. Freude vernahmen die schwarzen Figuren, als hätten sie eine erste Etappe geschafft. Sie packten ihre Sachen und gingen weiter ihres Wegs, zum nächsten fatalen Grauen.

Eine Röhre aus Beton, lag auf dem Boden, sollte anderes Leben für immer sich holen. Erst wurde sich beraten, es wurde geschaut und überlegt, da nahm sich einer der Menschen den schweren Hammer und schlug zu das es nur so knackste, dass der Beton zerbricht. Diese hart, kalte Röhre würde nie mehr ein Leben in sich einsperren und es warten lassen auf die ewige Stille.

Freude kam auf und schon wieder, sollte grausame Gewalt hier weniger walten können. So ging es weiter von Unheil zu Grauen und bald gab es nichts mehr was dazu genutz werden könnte, zu morden, zu quälen, hier sollte niemand erstmal kein Leben mehr nehmen. So zogen die vermummten, schwarz gekleideten Lumpen, in die Finsternis der Anonymität und verschwanden, um weiter Unheil zu sichten und es zu zerstören.

Jagdsabotage ist wichtig und macht riesig Freude, also geht hinaus liebe ALF Meute!

Wunderbar: Gesammelte Schrift zum Schwarzen und Indigenen Anarchismus

Eine Rezesion über das Buch Schwarze Saat. Eine wichtige Sammlung an Schriften von B-I-POC Personen über einen Anarchismus, der durch die koloniale Geschichte, der weißen Vorherrschaft und dem Rassismus, der tief in uns allen verwurzelt wurde, wenig Beachtung in den anarchistischen Bewegungen noch hat, aber nicht mehr länger ignoriert werden kann. Aus diesen Schriften ist mehr zu entnehmen und zu lernen, als von den traditionellen Anarchist*innen der eurozentristischen Welt. Für eine emanzipatorische Transformation können viele dieser Menschen nicht länger ignoriert werden, um die Sicht auf die unterdrückerischen Verhältnisse unserer Welt grundlegend auszuweiten.

Quelle der Rezesion: https://www.untergrund-blättle.ch/buchrezensionen/sachliteratur/elany-schwarze-saat-gesammelte-schriften-zum-schwarzen-und-indigenen-anarchismus-6842.html

Direkt nach dem Erscheinen versuchte ich an den vermutlich ersten Sammelband zum schwarzen und indigenen Anarchismus auf deutscher Sprache zu kommen. Leider dauerte es doch eine Weile, bis ich dazu kam, ihn zu lesen.

Unter mir unbekannten Umständen wurden die Herausgeberin Elany und eine Gefährtin kürzlich in der Schweiz verhaftet.[1] Da es müssig und unsinnig ist, über die Hintergründe zu spekulieren, konzentriere ich mich im Folgenden auf den Eindruck, den ich vom Sammelband gewonnen habe. Die aktuellen Ereignisse sind aber zu erwähnen, da mit ihnen deutlich wird, dass es noch Leute gibt, die leben und tun, wovon sie schreiben. Unabhängig von ihren konkreten inhaltlichen Positionen – die freilich auch mit unseren jeweiligen Positionierungen und Erfahrungen in der herrschaftsförmigen Gesellschaft zu tun haben – ist dieses Engagement anzuerkennen, wertzuschätzen und inspirierend.

In Schwarze Saat sind ganze 85, meist kurze, Texte aus der Perspektive eines schwarzen und indigenen Anarchismus, deren Autor:innen auch den entsprechenden Hintergrund haben.[2] Dass es sich um ein Buch ohne weisse Europäer:innen handelt ist sehr wichtig, um die Ansprüche auf Selbstbestimmung und eigene Organisierung von rassistisch diskriminierten sozialen Gruppen zu unterstreichen. Kein weisser, europäischer Anarchist sollte je wieder das billige Argument der „Spaltungsbestrebungen“ anbringen, wenn sich People of Color oder auch FLINTA (Frauen, Lesben, Inter-, Nonbinary-, Trans-, Agender-Personen) in eigenen Untergruppen oder auch autonomen Gruppen zusammenschliessen, um aus ihrer spezifischen Perspektive heraus herrschaftsfeindliche Praktiken hervorzubringen. Und dies beinhaltet notwendigerweise immer auch eine Kritik an vorgetragenen anarchistischen Ansprüchen von Genoss:innen. Diese hat nicht immer konstruktiv und solidarisch zu sein. Ankommen wird sie vermutlich dennoch meistens, wenn sie so vorgetragen wird.

Ich bin sehr dankbar für die Herausgabe dieses Sammelbands, von dem ein Grossteil der Beiträge übrigens auch einzeln vorab auf der Seite schwarzerpfeil.de[3] veröffentlicht wurde. Und zwar deswegen, weil mit ihm andere Stimmen festgehalten werden, denen ich selbst zu selten Gehör schenke. So wusste ich beispielsweise bisher nicht, dass der ehemalige Black Panther Aktivist Lorenzo Kom’boa Ervin sich offenbar als einer der ersten Anarchists of Color bezeichnete und seine Schrift Anarchism and the Black Revolution, die 1979 erschien, eine unheimlich weite Verbreitung gefunden hat.[4]

Wenn mir die anarchistische Gewerkschaftsaktivistin Lucy Parsons selbstverständlich bekannt war, so nicht die Gruppe Afrofuturist Abolitionists of the America, deren Erklärung zur Selbstbezeichnung „Anarkata“ (ein angeeignetes Schimpfwort für widerständige, eigenwillige Katzen) sehr inspirierend ist. „Intersektionalität“ und „Identitätspolitik“ ist hierbei kein liberaler Rahmen, innerhalb dessen es für mehr „Diversität“ oder „Sensibilität“ einzutreten gälte, sondern eine klare Kampfansage gegen die multiplen, verwobenen Herrschaftsverhältnisse aus Perspektive der von ihnen Betroffenen.

Dass der ungeheure Reichtum der europäischen Post-Kolonialstaaten auf Sklavenarbeit beruht; dass die Kolonialisierung der Amerikas die brutale Unterdrückung der Native People voraussetzte; dass die weisse Arbeiter:innenklasse gegen die schwarze und indigene Bevölkerung ausgespielt wurde und wird, um erstere durch propagierten Rassismus in die Herrschaftsordnung zu integrieren; ja, dass die Entwicklung einer angeblich überlegenen, „weissen Rasse“, erst selbst als ein Produkt dieser krankhaft-zivilisatorischen Unterwerfung ist – dies und anderes war mir auch vorher bekannt. Kapitalistische Ausbeutung in der Klassengesellschaft, staatliche Unterwerfung und Unterdrückung, nationalistische Eingliederung, Naturbeherrschung, patriarchale Dominanz und weisse Vorherrschaft, sind zweifellos miteinander verwobene Herrschaftsverhältnisse von denen wir alle – aber eben alle auch unterschiedlich – betroffen sind.

Wer davor die Augen verschliesst, muss anfangen, Mythen und Rechtfertigungsmuster zu stricken, um sich erklären zu können, warum Menschen irgendeiner Gestalt und Seinsweise, eine unterschiedliche Wertigkeit und Würde zugeschrieben wird – die sich dementsprechend auch materialisiert findet. Die Geschichte zu kennen, ist eine entscheidende Voraussetzung, um in sie eingreifen zu können. Etwas anderes ist es dennoch, Geschichten von Menschen zu hören, die sich der Herrschaftsordnung und ihrer konkreten Auswirkungen widersetzen und gegen sie rebellieren.

Dies führt auch zur schwierigen und prinzipiell nicht abschliessbaren Definition von Schwarzem Anarchismus. Verstanden werden können darunter alle Gruppen von schwarzen anarchistischen Radikalen, seien sie Anarchist:innen in Afrika, schwarze Anarchist:innen oder Autonome in den USA, die antiautoritäre Strömung, die aus den Black Panthers hervorging, die Nachkommen geflohener Sklaven in Brasilien, den Quilombo, sowie die Maroon-Gemeinschaften, beispielsweise auf Jamaika, oder schliesslich die queeren Anarkatas. So herausfordernd die Zusammenkunft von Menschen aus verschiedenen Hintergründen auch sein kann, so viel Potenzial beinhaltet ein heterogenes und unabgeschlossenes Kollektivsubjekt wie der schwarze Anarchismus aber auch.

Zwar gab es hierbei auch die Wiederentdeckung bekannter europäischer Anarchisten. Der Ex-Panther Ashanti Alston schreibt beispielsweise davon, im Knast mit Bakunin, Kropoktin und im Briefverkehr mit anderen anarchistischen Denker:innen Kontakt gekommen zu sein. Zugleich ist sehr verständlich, dass diese nur bedingt etwas zu sagen haben für die Situation und den Erfahrungshintergrund, in dem sich beispielsweise militante schwarze Anarchist:innen in den USA der 70er Jahre befanden. Darüber hinaus inspirierend wurde deswegen die Wiederentdeckung und Wiederaneignung der zu weiten Teilen verschütteten afrikanischen Geschichte, in der lange Zeit in vielen Gebieten egalitäre Gesellschaftsformen bestanden. Weit entfernt davon, diese zu idealisieren, verweisen sie dennoch auf die Möglichkeiten, andere Formen des Zusammenlebens schaffen zu können, als wiederum auch darauf, dass die nationalstaatlich-kapitalistische Herrschaftsordnung ganz wesentlich von Europäer:innen aufgezwungen wurde.

Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Nation“ spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn der phasenweise stark gemachte „schwarze Nationalismus“ ist anders zu bewerten als jener, welcher mit dem Nationalstaat verbunden ist. Unter ersterem konnte sich ein unterdrücktes und in sich heterogenes Subjekt versammeln, um gemeinsam aufzustehen, widerständig zu sein und sich selbst zu organisieren. Davon zu unterscheiden und in vielerlei Hinsicht problematisch ist die von Schwarzen gebildete „Nation of Islam“ – deren Existenz aber unter anderem den Anstoss gab, das Konzept einer (auch als Gemeinschaft verstandenen) Nation zu hinterfragen. Anti-Nationalismus und andere Themen sind allerdings nichts, was weisse Anarchist:innen (vor allem wenn sie einen bürgerlichen Hintergrund haben) anderen erklären müssten, sondern von den jeweiligen Positionen ausgehend entdeckt werden kann.

Vor allem die Autor:innen Aragorn!, zig und Elany selbst schreiben aus einer dezidiert zivilisationsfeindlichen, technologiekritischen und „insurrektionistischen“ Perspektive. Darin haben sie meines Erachtens nach einige Argumente. Denn technologische Entwicklungen werden die ökologische Zerstörung, welche das Kapital unweigerlich hervorbringt und seine Verwertungsschwierigkeiten, mit welchen Arbeiter:innen immer weitere Krisenerscheinungen aushalten müssen, keineswegs abmildern, noch aufhalten. Führen wir uns vor Augen, wie stark im Anthropozän Menschen die lebendige Mitwelt dezimiert und durch eine tote Technosphäre ersetzt haben[5], ergibt sich meiner Ansicht nach von selbst, dass es zu einem umfassenden Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung kommen muss.

Abgesehen davon, dass der Nihilismus mehr philosophische Gedankenspielerei ist und Weltschmerz ausdrückt, als brauchbares emanzipatorisches Potenzial aufzuweisen, sind allerdings einige Schlussfolgerungen zu problematisieren, welche in dieser Strömung – noch mal beschleunigt durch die Pandemie – bisweilen gezogen werden.[6] Dies ist aber eine andere Geschichte und ergibt sich nicht aus dem schwarzen und indigenen Anarchismus per se. Eine offene Debatte um Fragen nach der Rolle von Zivilisation, Technologie, Individualismus, europäischer Rationalität im Gefüge der bestehenden Herrschaftsordnung bleibt weiter zu führen.

In jedem Fall hilft die Textsammlung in Schwarze Saat, das Selbstverständnis von Anarchist:innen im deutschsprachigen Raum zu hinterfragen und damit zu erweitern.

Jonathan

Die erste Ausgabe ist gedruckt!

Hallo liebe Menschen!

Die erste Ausgabe von Dystopia ist endlich gedruckt. Es ist momentan eine Ausgabe von 50 Exemplaren, aber es kann auch noch nachgedruckt werden. Wer eine haben will, kann uns anschreiben. Die nächste Ausgabe ist somit ab sofort in der Mache. Wenn ihr was im Dystopia-Magazine veröffentlichen wollt, schreibt uns gerne über unser Kontaktformular an. Natürlich gibt es die Dystopia als PDF zum Download und kann gerne von Menschen selber veröffentlicht werden!

Danke an alle, die an diesem Projekt beteildigt sind. Es lebe die Anarchie!

Polizei mordet weiter

In Gedenken an alle Menschen, die Polizeigewalt erleben.

Besonders die Menschen, die von rassistischer Polizeigewalt betroffen sind.

In Gedenken an alle von Polizist*innen ermordeten Menschen.

Am 07. Januar 2005 wurde Oury Jalloh (Mamadou Oury Diallo) aus Guinea von Polizist*innen ermordet und in einer Gefängniszelle verbrannt. An seinem 19. Gedenken wurde eine weitere Person of Color aus Guinea, in Mühlheim an der Ruhr von Polizist*innen ermordet.

Never call the Police!

Hier zwei Handouts, die Hilfestellungen dafür sein können, was zu tun ist wenn einem Menschen Polizeigewalt angetan wird, es beobachtet oder die Polizei von sich fern zu halten.

ACAT

Eine anarchistische Fürbitte

Die Zivilisation ist unser Religion

Im Fortschrittschwahn geboren,

hat der Mensch sich stets belogen.

Welch Lügen gehen wir nach,

dass die Welt zusammen kracht.

Im Zentrum steht der Mensch,

der sich als Maß für alles nennt.

Und die Armen, die Idioten?

Sich beschweren ist verboten!

Wir schmarotzen uns Wohlstand.

Der Regenwald ist abgebrannt.

Lieber Gott, der du da nicht bist.

Die Menschheit glaubt, dass sie dich vermisst

und verkennt dabei, dass sie selbst verantwortlich ist.

Alter weißer Mann im Himmel

Am Arsch sind deine Privilegien

Kein Reich komme, Anarchie geschehe

Wie in Spanien 1936

Unser tägliches Brot gibts in der Tonne

und vergib uns keine Schuld

denn wir wissen um die Schuldiger

Wir sind Opfer der Versuchung

und erlösen uns selbst vom Kapitalismus

Denn scheiße ist ein Reich und Macht und patriarchaler Herrschaftsscheiß

in Ewigkeit, gegen eure Zivilisation

Anarchie!

Jagdstörungsbericht aus der Nähe Osnabrücks

Am Samstag, den 11.11.2023, haben sich Jäger*innen dazu verabredet, dem vermeintlich heiligen Hubertus zur Ehre und aus Vergnügen an der mörderischen Sache Wildtiere aufzuscheuchen und dann zu erschießen. Von diesem Vorhaben hat eine Gruppe Aktivisti rechtzeitig erfahren, sodass einige ausgiebige Vorbereitungen zur Störung dieses unsäglichen Treibens stattfinden konnten. Der aus einer öffentlichen Mitteilung bekannte Treffpunkt wurde ausgekundschaftet und am Tag der Jagd von der Gruppe observiert. Als die Jäger*innen, nachdem sie sich begrüßt und besprochen hatten, in ihre fetten Karren stiegen, um zum gemeinschaftlichen Töten aufzubrechen, hat sich die in mehrere Kleingruppen aufgeteilte Aktivisticrew an die Wagen drangehängt und sie unauffällig verfolgt. Die Größe der protzigen Pickups der Grünröcke gereichte ihnen dabei zum Vorteil, da sie selbst dann sichtbar blieben, wenn einige andere PKW sich zwischen Jäger*innenauto und Verfolger*innenkarosse drängten. Von Nachteil hingegen war der testosterongeladene Fahrstil der Hobbymörder*innnen, der Geschwindigkeitsbegrenzungen offenkundig zur unzumutbaren Einschränkung liberaler Freiheiten werden ließ, auf die dann auch geflissentlich geschissen wurde. Es gelang den Aktivisti dennoch, den Konvoi bis an den Ort des Geschehens zu folgen. In noch sicherer Entfernung wurden sie von der Fahrer*in abgesetzt, um zunächst noch unbemerkt und aus der Distanz die Lage zu sondieren. In der hörbaren Umgebung aber fielen bereits die ersten Schüsse – anderswo hatte das Töten also bereits begonnen. In dem Augenblick, wie sich die von den Aktivisti verfolgte Gruppe Jäger*innen in Position begab, um zum Treiben anzusetzen, begaben sich die tierlieben Störenfriede aufs Feld und stellten sich vor die Flinten der Grünröcke. Diese reagierten spürbar irritiert, schauten verdutzt und suchten recht zügig darüber aufzuklären, dass sich alle unbefugten Personen schleunigst zu entfernen hätten. Ein offenkundig besonders bewegungsfreudiger Waidmann begann nach kurzer Zeit, den Aktivisti auf die Pelle zu rücken und ihnen, da sie selbstredend auswichen, hinterher zu laufen. Nun wurde also Jagd auf Aktivisti statt auf Tiere gemacht; zum großen Glück von Ersteren allerdings ohne Gebrauch der Schusswaffe und nach wenigen Metern auf schlammigem Grund auch nur noch sehr halbherzig. Leichter war da der Griff zum allzeit verfügbaren Smartphone, mit dem sogleich gedroht wurde, die blauen Menschen mit Waffen zur Unterstützung hinzuzurufen. Da der Kontakt mit jenen erfahrungsgemäß wenig erbaulich verläuft, entschloss sich die Gruppe Aktivisti zum vorläufigen Rückzug. Eine Verzögerung der Jagd hatte bereits stattgefunden und den übellaunigen Kommentaren der beteiligten Jäger*innen zurfolge hatte die Präsenz der Störer*innen die Erfolgsaussichten auf erfolgreiches Töten bereits erheblich geschmälert. Die Gruppe entschloss sich, sich zunächst dem Sichtfeld der angesäuerten Flintenfeger zu entziehen und sich in Richtung der bereits abgefeuerten Schüsse zu bewegen. Es dauerte nicht lange, bis sie auf die nächste Gruppe Jäger*innen stieß, die bereits begonnen hatte, aus Gründen der Naturverbundenheit Lebendiges in Totes zu verwandeln. Auch hier begaben sich die Aktivisti im wahrsten Sinne des Wortes ins Gefecht und zwangen die Jäger*nnen dadurch, ihr Treiben einzustellen. Waren die ersten Jäger*innen noch am mutmaßen, ob sie auf besonders renitente Spaziergänger*innen mit schlechtem Hörvermögen gestoßen waren, waren die auf dem zweiten Feld agierenden Hubertusjünger deutlich weniger überrascht. Die Nachricht von intendierten Störaktionen schien also bereits die Runde gemacht zu haben. Kurzerhand wurde von einem Waidmann mit autoritärer Intonation das Vorzeigen eines Ausweisdokumentes eingefordert, was ganz zur zusätzlichen Erzürnung des sich ohnehin schon aufbäumenden Jägers selbstredend ignoriert wurde. So blieb den von der Jagd Abgehaltenden auch hier nur wieder der Griff zum Smartphone und die Anrufung der staatlichen Autorität. Während diese sich womöglich aus der nächstgelegenen Stadt auf den Weg in die Kaparten machte, brach die Aktivistigruppe erneut auf und machte sich auf den Weg zur nächsten Störaktion. So ging das dann noch eine ganze Weile weiter, bis irgendwann die Dunkelheit einbrach und alle Aktivisti ohne Polizeikontakt vom Komplizenauto wieder eingesammelt und an einen sicheren Ort gebracht wurden. Dort angekommen hatte eine Genossin bereits gekocht: es gab Anti-Jäger*innenschnitzel.

Dystopia: Hasepost: BlackFriday

Da waren wohl Aktivisten am Werk: In der Nacht zum heutigen Freitag (24.11.) wurden in der Osnabrücker Innenstadt die Türen von mindestens vier Geschäften mit Ketten und Vorhängeschlössern abgeriegelt.

Die Schlösser waren mit der Aufschrift “Die Schwarzen Vier” markiert. Dabei handelt es sich um eine Bande aus der Hörspielserie “Bibi Blocksberg”. Offensichtlich soll mit der Handlung gegen die Konsumgesellschaft zum heutigen Aktionstag Black Friday protestiert werden. Am Black Friday gewähren viele Onlienshops und Geschäfte weltweit und somit auch in Osnabrück teils große Rabatte.

Schloss vor Superdry Osnabrück / Foto: Dominik Lapp
Die Eingangstür vom Superdry-Store in der Großen Straße ist mit Kette und Schloss abgeriegelt worden. / Foto: Dominik Lapp

Mindestens vier Geschäfte in Osnabrück betroffen

Betroffen sind in der Friedensstadt mindestens der Gravis-Store sowie die Geschäfte Superdry, Snipes und Wellensteyn, bei denen die Türen blockiert wurden. Wie die Polizei auf Nachfrage unserer Redaktion mitteilt, hat sich bislang noch niemand zu den Taten bekannt. Ermittelt würde wahrscheinlich aufgrund einer Nötigung, auch der Staatsschutz sei involviert. Wie der HASEPOST berichtet wurde, soll gestern Abend ein schwarzes Auto mit dunkel gekleideten Menschen aufgefallen sein, das sich sehr langsam durch die Große Straße bewegte.

In den vergangenen Jahren sind vor allem die Aktivisten von Extinction Rebellion (XR) mit Aktionen gegen den Black Friday aufgefallen, indem von ihnen zum Beispiel ein Einkaufszentrum in der Schweiz abgeriegelt oder vor einer Shoppingmall in Hamburg protestiert wurde. Bislang gibt es aber keinerlei Erkenntnisse, ob XR auch für die Aktion in Osnabrück verantwortlich ist.

Update 19:00 Uhr: Inzwischen erklärte XR auf Nachfrage unserer Redaktion, dass sie in keiner Verbindung mit der oben beschriebenen Aktion stehen.

Extinction Rebellion verschenkt am 25.11. Kleidung am Neumarkt

Stattdessen hat XR Osnabrück heute bekannt gegeben, dass sie morgen (25.11.) ab 13:00 Uhr am Neumarkt Second-Hand-Kleidung verschenken wollen. „Während durch den Black Friday finanziell gutgestellte Konsumentinnen konsumieren, bedeutet er doch vor allem eins: Riesige Profite für die Konzerne, Überkonsum und massive Umweltschäden. Auch ist es für viele Menschen mit knappem Budget nicht möglich, den Black Friday zu zelebrieren, stattdessen müssen sie sich täglich Gedanken darüber machen, wie sie über die Runden kommen. Dem stellen wir uns solidarisch entgegen. Durch unser Angebot versuchen wir, dieser Profitlogik zu entgehen“, heißt es in einer E-Mail an unsere Redaktion.

Copy/Paste von der Hasepost:

https://www.hasepost.de/black-friday-tueren-von-geschaeften-in-osnabruecker-innenstadt-abgeriegelt-420895/

Einfach Essen verteilen

Erfahrungsbericht eines Menschen vom solidarischen Aufbau. Am 20.11.23 wurde das erste mal die Aktion unternommen in der Stadt Osnabrück warmes Essen und Getränke auszugeben.

Die kalten Tage beginnen, aber ehrlich gesagt ziemlich spät in diesem Jahr. Dennoch scheiße für die Menschen, die zu diesen Zeiten draußen in der Kälte leben oder die meiste Zeit ihres Tages dort verbringen müssen. Die Stadt Osnabrück hat ein reichhaltiges Angebot für Menschen, die es sich leisten können, sich beim Einkaufen und Shoppen warme Mahlzeiten und Getränke für zwischendurch zu gönnen. Menschen auf der Straße, die sich kleines Geld erarbeiten, indem sie auf den ein oder anderen solidarischen Menschen hoffen, schauen derweil den konsumierenden Privilegierten zu. Heute bin ich mit anderen Menschen vom solidarischen Aufbau zusammen durch die Osnabrücker Innenstadt gezogen, mit Fahrradanhängern ausgerüstet, mit Kaffee und warmer Kartoffelsuppe, containerten Brötchen und Brot. Wir haben einige Menschen getroffen, die sich sehr dolle gefreut haben über eine warme Mahlzeit und wärmende Getränke. Wir haben viele nette Gespräche führen können und uns über Erfahrungen auf der Straße und allgemein über Vieles ausgetauscht. Da ich selber immer mal wieder in meinem Leben wohnungslos war und in gleichen Situationen gesteckt habe, war es für mich besonders schön warmes Essen und Getränke zu verteilen, da ich das zu meiner Zeit auf der Straße auch gebraucht und ich mich sicherlich für diesen Tag etwas besser gefühlt hätte. Viele Probleme sind klar. Es braucht Wohnraum, Orte, an denen Menschen sich unter angenehmen Umständen aufhalten können und mehr solidarische Angebote, die die Menschen zu selbstständiger Stabilität verhelfen können. Wir sind nur eine kleine Gruppe, die längst nicht bieten kann, was es eigentlich braucht. Aber mit wenigen Mitteln, anarchistischer Hoffnung und Bestrebungen danach, etwas Sinnvolles zu tun, können wir wenigstens kurz den Menschen, die vom System völlig ignoriert werden, das Gefühl geben, dass nicht alle wegschauen wollen und können. Der Staat löst keine Probleme für die Außenseiter der Gesellschaft, deshalb müssen wir Menschen das tun und Gegenstrukturen organisieren. Ich hoffe wir werden mehr und nehmen unsere Leben als Menschen wieder selbst in die Hand. Ich will, dass das geht und ich lass mich nicht davon abhalten es zu versuchen. Deshalb laden wir die Menschen zu unserem offenen Plenum ein, immer der erste Dienstag im Monat, damit wir uns zusammen organisieren können. Wir brauchen Strukturen, die unsere wirklichen Bedürfnisse nach sozialer Akzeptanz, kreativer Verwirklichung, Nahrung und witterungsfesten Unterkünften, stillt. Die Systeme haben keine gerechten und fairen Angebote für uns Menschen. Sie schaden uns und allem Leben auf der Welt und bieten dem Menschen nur künstliche Befriedungen. Wir werden weiter durch die kalten Tage ziehen, mit gespendeten Jacken, Schlafsäcken usw., containertem Essen und warmen Getränken, so oft wir es schaffen. Ich will einfach, dass es besser wird!

Die Stadt gehört allen! Für ein solidarisches, anarchistisches Miteinander!

Mirage 2000+

von Juan Tramontina

Das ist total unfair, dachte Menara. Gerade hatten die Vereinigten Staaten angekündigt, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszusteigen. Wie sollen wir das bloß noch schaffen?

Sie lief in die Wohnküche und bereitete eine große Kanne Kräutertee zu. Eine Entspannungstasse für sich selbst, den Rest ließ sie stehen. Es dauerte nie lange, bis die Kanne leer war.

Zurück in ihrem Zimmer ging sie wieder online. Mit ihrer klimaaktivistischen Gruppe hatte sie viel Lobbyarbeit für ein solches Abkommen betrieben, und jetzt das. Es war definitiv ein heftiger Rückschlag. Und ein dezenter Hinweis darauf, dass sie an ihrer Strategie arbeiten musste. Womöglich hatte sie den Fokus zu stark auf den Bereich der Regierungspolitik gelegt. Zu allem Überfluss las sie im Internet, dass die EU nach aktuellem Stand ihre selbst gesetzten Klimaziele nicht erreichen würde. Erst spät schlief sie ein. Wieder einmal.

„Menara, baki, baki!“ Rini verfiel immer ins Esperanto, wenn sie ihre jüngere Schwester aufrütteln wollte. „Wir müssen los!“ Es stimmte, sie waren mit Backen dran. Vor drei Wochen, am ersten Sonntag des Monats, hatten sie auf der Nachbarschaftsversammlung vereinbart, heute für den ganzen Block Pizza zu backen. Im Hinterhof wartete schon die restliche Meute, etwa ein Dutzend Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 17. Es bildeten sich drei Gruppen: Eine sollte sich um die riesige Teigmasse kümmern. Angeleitet von Rini, deren Arbeit dieses Jahr darin bestand, den weitläufigen Gemüsegarten zu pflegen, sollte eine weitere Gruppe die überdachten Tomatensträucher abernten und die überall verteilten Basilikum- und Oregano-Pflänzchen absuchen. Und eine dritte war für das Anheizen des größeren der beiden Lehmöfen verantwortlich. Auf den Dächern drumherum blitzten die Solarpaneele, und die Gemeinschaft hatte es sich nicht nehmen lassen, im Innenhof gemeinsam die altmodischen Lehmöfen zu bauen und zu betreiben. Den ganzen Nachmittag über kamen Leute vorbei, aßen Pizza und beglückwünschten die Bäckerbande zu ihrem Geschick. „Dankon!“, riefen sie ihnen zu.

Über Lehm- und andere Öfen sinnierend, kam Menara schließlich auf das Thema Braunkohle, einem der zentralen Energieträger des Landes, aber auch weltweit. Ihr Urteil war schnell gefallen: Diese Dreckschleudern, die sich Kohlekraftwerke schimpften, waren ein Übel sondergleichen. Im Vorfeld der Weltklimakonferenz in Bonn beteiligte sich ihre Gruppe an einer Protestaktion vor einem solchen Kraftwerk. Vor den Toren hielten sie Transparente hoch, doch dahinter brannten die Öfen weiter. Irgendetwas stimmte nicht. Sie beschloss, ein wenig Zeit verstreichen zu lassen. Sie zog sich von der Gruppe zurück und überließ das Ganze seinem Lauf. In der Zwischenzeit ordnete sie ihre Gedanken. Kohlekraftwerke, die die Industrie am Laufen hielten, die das ganze System am Laufen hielten …

„Ĉu vi volas vojaĝi al Berlino?“ Rinis Frage riss Menara unsanft aus ihren Überlegungen. Was soll diese Frage jetzt? Und was soll ich in Berlin? Sie weiß doch ganz genau, dass Reisen nicht so mein Ding sind.

„Es sind gerade ein paar Plätze im Zug frei.“

„Du siehst doch, dass ich beschäftigt bin!“, platzte es aus Menara heraus.

Rini nickte. „Hätte ja trotzdem sein können, dass du Lust hast, was zu erleben. Aber wer bin ich schon, um darüber zu urteilen, womit andere Leute ihre gesamte Zeit verbringen? Wir sehen uns!“ Die Tür fiel hinter ihr zu.

Menara begann ihre Informationsquellen zu diversifizieren, eine Tageszeitung hier, eine Radiosendung dort, ein Videoblog ganz woanders. Über Twitter wurde sie schließlich auf etwas aufmerksam, das sie sofort begeisterte: Eine Gruppe junger Menschen hatte alles hinter sich gelassen, war in der Nähe von Aachen in einen Wald gezogen und hatte angefangen dort zu leben. Nicht auf dem Boden, sondern auf Bäumen. Die Rodung der Reste eines der ältesten deutschen Primärwälder sollte so verhindert werden. Wahnsinn, dachte sie. Das ist ein ganz anderer Ansatz als Lobbyarbeit oder symbolische Aktionen. Das ist es, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe. Direktes Einwirken – ohne Umschweife oder Mittlerpersonen. Ihre Umweltgruppe ließ sich schnell von der Idee begeistern, dieses Projekt zu unterstützen. Gemeinsam ließen sie sich auf dem Wiesencamp nieder, wo die Unterstützer der Waldbesetzung und der Baumhäuser im Hambacher Forst ihr Lager hatten.

Ihre Tür ging auf. „Ich habe was mitgebracht … Aber schauen musst du schon selbst!“ Rini drängte sie in Richtung Fenster. Menara schwieg, ließ sich aber dennoch von ihr führen. Was will sie denn jetzt? Sie platzt immer rein, wenn ich … Oh, was?! Kann doch nicht wahr sein! „Deswegen wollte ich, dass du mitkommst“, beantwortete Rini Menaras fragenden Blick. „Ich mich bereits vor einem halben Jahr bei der neuen Manufaktur in Berlin auf die Liste für ein Lastenrad eingetragen – und dafür an anderer Stelle eine notwendige Tätigkeit erledigt. Jetzt hat unser Block auch eines.“ Hand in Hand sprangen Menara und ihre große Schwester im Kreis.

Menara war zurück bei ihren Klimaaktiven. Mit dieser Gruppe hatte sie schon mehr über klimatische und politische Zusammenhänge gelernt als innerhalb ihres Kreises zur gegenseitigen Bildung an der Schule. Und sie sollte noch deutlich mehr lernen – am eigenen Leib sozusagen: Eine Million Arbeitsstunden setzte die Polizei ein, um 77 Baumhäuser zu räumen – zugunsten des Braunkohletagebaus. Menara kam dabei zum ersten Mal in Polizeigewahrsam.

Sie wusste nicht, was sie davon zu halten hatte. Sie bereute keine ihrer Taten, aber die Erfahrung hatte sie durchaus mitgenommen. Dass es am Ende – und direkt im Anschluss an die Räumung – ein Gericht war, dass die Rodung untersagte und den gesamten polizeilichen Einsatz rund um die Baumhäuser ad absurdum führte, war immerhin eine mehr als kleine Genugtuung. Jetzt musste sie aber vorerst abschalten. In ihrem Stadtviertel begann das halbjährliche Schenkfest, eine willkommene Abwechslung. Auf dem neuen Lastenrad brachte sie gemeinsam mit Rini, neben einigen Sachen aus dem Haus, eine kleine Kommode, die sie nicht mehr brauchten, sowie verschiedenste Kleidungsstücke, die noch gut in Schuss waren, auf den großen – und völlig überfüllten – Platz. Das Event, nach dem Objekte aller Art wild durcheinander gewürfelt überall im Stadtviertel und darüber hinaus wieder auftauchten, war eines der beliebtesten Feste im Jahr. Menara musste schmunzeln. Das dort drüben ist doch mein selbst bemaltes T-Shirt vom letzten Jahr! Ein Mädchen lief an ihr vorbei, mit einem Ausdruck großer Zufriedenheit im Gesicht.

Ein Grinsen tauchte auch auf Menaras Gesicht auf, als sich wie aus dem Nichts plötzlich Fridays for Future wie ein Virus rasant verbreitete. Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt entschieden plötzlich, sich zur Wehr zu setzen – gegen eine Zukunft, die für sie allzu katastrophal aussah. Menara animierte ihre Gruppe sofort, sich auch dort zu engagieren. Ein halbes Jahr später kam es zu einem globalen Protesttag. Hunderttausende waren auf den Straßen unterwegs. Menara natürlich mit dabei. Doch obwohl die Dringlichkeit des Themas immer mehr Menschen bewusst wurde, passierte – vom Aufschwung grüner Parteien mal abgesehen – vergleichsweise wenig. Klar, was sind schon unsere Druckmittel? Ein Schulstreik unterscheidet sich halt in einem Punkt total von einem Arbeitsstreik. Er tut niemanden weh.

Rini verabschiedete sich von ihrer Schwester und ging – wie sie stets schmunzelnd zum Besten gab – zu ihrer zweiten „Arbeitsstelle“. Menara hatte sie dort beobachtet: In ihrer Werkstatt arbeitete Rini tatsächlich. Hauptsächlich für sich selbst. Immer wieder entstanden Werke, richtige Kunstwerke: Aus recyceltem Papier und Hanffäden, Zweigen und Muscheln gebastelte, verdrehte und leuchtende Landschaften, die entweder an ein Haus gingen, in dem jemand eine notwendige Tätigkeit erledigt hatte, oder an einen der vielen Ausstellungsräume. Manchmal sogar an ein Museum. Menaras Augen leuchteten bei diesen Gedanken auf. Nächstes Jahr würde auch sie eine eigene Werkstatt oder einen anderen Raum zum Ausleben ihrer Kreativität und ihres Schaffensdrangs haben können.

Tagelang dachte Menara über die Taktiken und Strategien der Umweltschutzbewegung nach. Am Ende schien ihr Fridays for Future einfach zu handzahm. Wichtig, aber nicht effizient genug. Sie stieg mit ihrer Gruppe bei XR ein – Extinction Rebellion. Eine Straßenblockade jagte die nächste. Beinahe im Wochenrhythmus landete sie jetzt im Polizeiarrest. Anfangs noch bei jeder einzelnen Festnahme wie vom Blitz getroffen, nahm die Betroffenheit rapide ab. Das Ganze kam ihr nur noch absurd vor. Wollen die Verantwortlichen die Klimakatastrophe gar nicht verhindern? Was soll diese polizeiliche Überreaktion bezwecken? Hört hier denn niemand auf die Jugend? Was ist das für eine Gesellschaft?!

Möglicherweise in Reaktion auf Fridays for Future und XR erklärte die EU schließlich den Klimanotstand. Ignoranz wollte sich scheinbar niemand vorwerfen lassen. Was beachtlich klang, hatte jedoch keinerlei konkrete Folgen. Und kurz darauf war vom einem neuen Virus die Rede. In China kam es zum Lockdown, in Norditalien drohte der Stillstand einer ganzen Region. Menara verkroch sich in ihr Bett.

Früh morgens war sie nochmals kurz online. Mit Tränen in den Augen rannte sie in Rinis Zimmer und legte sich zu ihrer noch schlafenden Schwester. Menaras Unruhe spürend, war diese im Nu hellwach. „Ist mit dir alles in Ordnung, Liebes?“

„Ja, klar! Ach, was weiß ich?! Nein. Alles scheiße!“

„Was denn los?“, wollte Rini wissen.

„Das ist doch alles mega unfair! Jetzt wurde das Virus auch noch zu einer Pandemie erklärt. Alles ist lahmgelegt.“

„Verstehe … dein immersives Strategiespiel aus dem Umweltunterricht.“ Rini blieb ganz ruhig, öffnete ihr Interface und loggte sich bei Menara ein. Diese fing an zu schluchzen. Rini schaute sich auf Menaras VR-Rechner um.

„Nimm dir das nicht so zu Herzen, Kleine. In welche Rolle bist du geschlüpft? Die Industriellen?“

„Normale Bevölkerung. In Form einer kleinen Umweltschutzgruppe“, antwortete Menara knapp.

„Ok, neniu surprizo!“, sagte Rini. „Deren Spielziele sind faktisch unerreichbar. Eigentlich wäre ein anderes politisches System nötig, doch das ist schwierig in der kurzen Zeit.“

„Lässt sich die Welt denn überhaupt nicht retten?“ Menara weinte nicht mehr, sondern blickte ihre Schwester verblüfft an.

„Am Anfang denkst du noch ‚Ist ja genug Zeit, wird schon alles‘. Am Ende ist die Entwicklung rasant und für eine Kehrtwende sind die Kräfteverhältnisse zu ungleich verteilt“, sagte Rini. „Deswegen der Titel des Spiels: ‚Alternativ-Erde 2000+: Klimawandel-Challenge – Mirage-Edition‘. Aber bei dem Spiel geht es auch weniger ums Gewinnen im simulierten Szenario, als darum, welche Schlüsse wir aus der Erfahrung für unsere eigene Welt ziehen. Allerdings halte ich die Weltrettung in dieser Spielvariante größtenteils für reine Mirage, eine Fata Morgana!“

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