Dieser Text ist ein Plädoyer für den Mut zur Unsicherheit, mitunter sogar zur handelnden Naivität, die in ihrer Einfachheit immer schon Elemente des Widerstandes gegen die verwaltete Welt enthält. Ich möchte Werbung machen für diesen einen Gedanken, der doch das ganze Leben so sehr zu verändern vermag, ist er einmal in vollkommender Klarheit ins Bewusstsein getreten. Dieser eine Gedanke, aus dem so viel Schönes wie Schreckliches erwächst, ist dieser: Es gibt keine Sicherheit. Unsere Existenz ist ein Schwindel, und zwar im doppelten Sinne. Uns wird schwindelig bei der Überlegung, wo wir herkommen, hingehen und wer wir sind. Das Nachdenken darüber, was außerhalb des Erfahrbaren liegt, ist immer wieder ein wilder Trip durch Metaphysik und Hirngespinste. Irgendwie cool und aufregend, aber stets ist man dabei bedroht, von der Wucht des Unbegreifbaren vollends aus der Fassung gebracht zu werden. Im Grunde ist diese Unternehmung ein großer Irrsinn, will sie sich doch in Gefilde begeben, die sich der Form unseres Erkennens vollends verschließen. Sie ist das Auslesen und Ausloten von Grenzen und nichts außerdem. Ein Schwindel ist unsere Existenz aber auch auf der zweiten Bedeutungsebene des Begriffs: Die Welt um uns herum ist Vorstellung, Erscheinung, Anschauung – Data aus der uns umgebenen Umwelt durchlaufen den Filter unseres Sinnesapparates und erzeugen die Illusion einer von unserer eigenen Subjektivität getrennten Außenwelt. Was die Dinge und wir selbst an sich sind, welche Beschaffenheit alles Seiende außerhalb der Modi Raum, Zeit und Kausalität hat – davon wissen wir nichts und nur hier ist Raum für Metaphysik, die aber notwendig schnell an die beschriebenen Grenzen gerät und dann für den Alltag recht eigentlich keine Bedeutung mehr besitzt. Wichtiger ist, was wir aus dem Leben nachdenkend für unser Leben herleiten können. Sowohl durch intensives Grübeln über die Existenz als auch durch eine einschneidende Erfahrung kann der Mensch mit seiner eigenen Nichtigkeit und Unbestimmtheit konfrontiert werden. Bei manchen mag sich dieses Gefühl des „der-Welt-ausgesetzt-sein“ oder des „in-die-Welt hineingeworfen-sein“ sogar auch einfach ganz spontan und situationsunabhängig einstellen: auf einmal ist es da, dieses Wissen darum, eine nicht notwendige, aber mögliche Existenz zu verkörpern, die sich nur des Todes gewiss sein
kann. Wir finden uns umschlossen von Bedingungen und Konditionen, auf deren Bestehen wir zunächst (und in großen Teilen auch nie) einen Einfluss haben und doch müssen wir uns darin als
selbstständige und selbsttätige Wesen begreifen, wollen wir uns nicht selbst den Status der Hand-
lungsfreiheit- und Handlungsfähigkeit absprechen. Das ist wahrlich nicht immer eine leichte Hürde und ehrlich gesagt scheint mir das Gros der Menschen diese existenzielle Freiheit sehr bereitwillig an künstliche Autoritäten abzugeben, aber es ist, darauf möchte ich mit diesem Text hinaus, eine Hürde, die zu nehmen sehr erstrebenswert ist. Bisweilen sehnsüchtig denken wir daran zurück, wie es im Mutterleibe um uns bestellt war, wie wir um nichts fürchten und für nichts Unternehmungen anstellen mussten. Natürlich erinnern wir uns nicht, doch ist die gedankliche Rekonstruktion dieses Zustandes sehr verführerisch. Und doch ist dieser Zustand vollkommener Geborgenheit dahin, sobald das Bewusstsein der Handlungsfreiheit und
Ungebundenheit eingesetzt hat – mit dem unfreiwilligen Eintritt in den Subjekt-Status bleibt nichts als das Wissen, dem Prinzip nach ein freies Wesen mit Verantwortung für sich, seine Entscheidungen und den Konsequenzen, die daraus erwachsen, zu sein.
Wie auch immer dieses Wissen, dieser Schock des Existieren-Müssens ins Bewusstsein getreten sein mag: ist es einmal da, muss sich damit auseinander gesetzt werden. Aber was genau heißt das? Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, in eine unvorhergesehene Situation hineingeworfen worden zu sein, die ihn zum wie auch immer gearteten Handeln zwingt, kann vielleicht besser nachvollziehen, worauf dieser Text hinaus will. Der individuelle Mensch ist nämlich nicht bloß in eine einzige Situati-on hineingeraten, die er sich nicht ausgesucht hat und die von ihm verlangt, aktiv zu werden; jeder individuelle Mensch ist ins Leben selbst geraten, ohne diesen Eintritt irgend veranlasst oder geplant zu haben. Auf einmal sind wir und werden uns mit zunehmenden Alter genau dieses Umstandes bewusst: zu sein. Und da wir nicht anders können, als kausal zu denken, d.h. die Idee des Ursache-Wirkungs-Prinzips ein Modus menschlichen Erkennens überhaupt ist, sind wir sehr schnell bemüht, uns und unserem Leben einen Zweck zu geben. Wir begreifen uns als kontinuierliche Ursache für einen Zweck, der uns im Moment der Bewusstwerdung unseres Daseins gar nicht bekannt ist und sein kann. Wir sind einfach und wissen nicht, wieso, weshalb, warum. Dieser Umstand ist der Urquell alles Göttlichen, aller Religionen, aller Metaphysik, Esoterik und Spiritualität. All diese Erfindungen des Menschen sind Reaktionen darauf, sich einen Zweck nachträglich ins Leben zu holen. All diese
Erfindungen sind feige Ausflüchte vor und Pseudoerklärungen für die so schwer zu akzeptierende Möglichkeit, dass unser Leben sinn-, zweck- und ziellos ist. Es verlangt eine Menge und von den meisten Menschen nicht zu leistenden Mut, sich dieser sich unserem ganzen Selbstverständnis und Empfinden so sehr widersetzenden Möglichkeit zu stellen: Vielleicht sind wir einfach da, ohne zu irgendetwas Großem bestimmt oder Teil einer Universalität zu sein. Da muss mensch erst einmal schlucken, ist er doch (jedenfalls im sogenannten globalen Norden) kulturgeschichtlich regelrecht auf den Gedanken gedrillt worden, Mittelpunkt alles Seienden zu sein.
Sich jetzt zu begreifen als eine objektive Nichtigkeit, als etwas, das genauso gut nicht sein müsste, ist ein krasser Einschnitt in sein narzisstisches Selbstbild. Aber wer genau diesen Einschnitt, diese Zäsur in der Wahrnehmung und Bewertung des eigenen Daseins einmal zulässt, wird schnell merken, wie befreiend diese Kränkung ist. Der Druck und die Last, für etwas bestimmtes Leben zu müssen, als Teil eines metaphysischen Plans funktionieren zu müssen oder sich einer esoterischen Idee zu unterwerfen, fallen mit einem mal weg. Und das schafft Platz. Platz zwar für die Unsicherheit, sich nicht in vorgefertigten Mustern bewegen zu können, sondern frei entscheiden zu müssen. Platz aber auch für den Akt der Selbstermächtigung
und Platz für ein materialistisches Weltverständnis, das uns zu Akteur*innen macht.
An die Stelle autoritär geprägter Lebensentwürfe tritt die Notwendigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen und das Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Es braucht also Mut, dieses Wissen um die eigene Unbestimmtheit nicht einfach wieder tief in seine Gewohnheiten zu vergraben und wieder fremdbestimmten Mustern zu genügen, es braucht den festen Entschluss, die Sicherheit der künstlichen Fremdbestimmung aufzugeben und sich aus den Ketten der Automatismen zu befreien. Doch wer diesen Entschluss einmal fasst und bereit ist, ihn aufrecht zu erhalten, der erhält zum Lohn dieses irgendwie erhabene Gefühl, das sich bei der gezielten Konfrontation mit der Unsicherheit einstellt und echter ist als jedes weichgespülte Leben in Fremdherrschaft. Ich kann nur empfehlen, den Gedanken an die grundsätzliche und durch keine gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen zu tilgende Freiheit jedes Individuums, d.h. auch des eigenen Lebens, immer wieder zuzulassen und ihn zur Maxime des eigenen Handelns zu machen.
Natürlich ist, wer Entscheidungen selbst trifft und sie nicht zum Gegenstand übergeordneter Interessen macht, stets bedroht, auch Fehler zu machen, für die dann die volle Verantwortung sich einstellt.
Aber was sind schon Fehler? Gut und Böse sind zwar nützliche, aber mehr noch gefährliche Kategorien zur Weltvereinfachung. Das Denken in Dualismen und abstrakten Begriffen ist geradezu unvermeidbar, aber es kann der komplexen Wirklichkeit niemals auch nur im Ansatz gerecht werden und ist nicht selten der ideologische Nährboden für Grausamkeiten aller Art.
Dieses Denken ist daseiendes Werkzeug der Weltaneignung, aber ohne kritische Reflexion bei der Anwendung verkommt es zum Instrument der Macht und Herrschaft. Worauf ich aber hinaus will: Natürlich fasse ich, wenn ich mich zu entscheiden entscheide, auch solche Entschlüsse, deren Konsequenzen anders ausfallen als erhofft oder die sogar ein kalkuliertes Risiko besitzen, aber wenigstens habe ich in einem solchen Fall nicht gehorcht, sondern gehandelt. Das scheint mir mehr wert zu sein als jede Tätigkeit, die auf Befehl ausgeführt wird und im Sinne des vorherrschenden Diskurses als nützlich betrachtet wird.
Ich möchte also abschließend den Grundgedanken meines Anliegens in aller Kürze zusammenfassen:
Wir kommen als Wesen zur Welt, deren Sinn und Zweck unbekannt oder schlicht nicht vorhanden ist. Gleichzeitig aber sind wir konditioniert, in Kausalzusammenhängen zu denken und suchen daher fieberhaft nach dem Grund unserer Existenz. Diesen Grund erschwindeln wir uns zum Beispiel durch Religionen. In dem Leben der meisten Menschen wird es Momente geben, in denen die Kontingenz (Möglichkeit bei Nicht-Notwendigkeit) gnadenlos ins Bewusstsein bricht, andere leiten sich diesen Gedanken evtl. gezielt her. Ist er einmal ins Bewusstsein getreten, gibt es zwei Optionen: Entweder der Mensch flüchtet sich zurück in die Fremdbestimmung (Autoritäten aller Art) oder er begreift sich als freies und sinnentbundenes Subjekt, das die Verantwortung für sein Leben selbst in die Hand nimmt und mit bisweilen spielerischer Naivität die Dinge probiert. Zwar sind die Konditionen unseres Daseins ohne unseren Einfluss determiniert, innerhalb dieses epistemologischen Rahmens sind wir aber freie Wesen, die die Flucht nach vorn statt in die Unmündigkeit antreten sollten.